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Gescheiterte Kooperation und Zufall

  • Autorenbild: Fred Malich
    Fred Malich
  • 7. Okt. 2024
  • 2 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 14. Okt. 2024


Am 22. Dezember 1939, kurz nach Beginn des 2. Weltkriegs, ereignete sich im sachsen-anhaltinischen Genthin, 30 Kilometer nordöstlich von Magdeburg, das bis heute schwerste Zugunglück in Deutschland. Aufgrund eines vorausfahrenden, langsameren Militärzuges sammelte der aus Berlin kommende Schnellzug D 10 unterwegs fortlaufend Verspätung an. Ein vom Lokführer des D 10 im Bahnhof Genthin wahrgenommenes Warnsignal veranlasste ihn, die Notbremse auszulösen. Kurz danach und bereits außerhalb des Bahnhofs von Genthin kam der D 10 mitten in der Nacht zum Stehen. Keine zwei Minuten später gegen 0:50 Uhr fuhr der ebenfalls aus Berlin kommende und pünktlich verkehrende D 180 mit ca. 100 km/h ungebremst auf den stehenden und aufgrund des weihnachtlichen Reiseverkehrs überfüllten D 10 auf. Durch die enorme Wucht des Aufpralls starben offiziellen Quellen zufolge 186 Personen, andere Quellen sprechen von bis zu 400 Toten. Die meisten Opfer waren im D 10 zu beklagen. Die Lok des D 180 war eingesetzt worden, obwohl ihre elektromechanische Zugsicherung ausgebaut war. Der Lokführer des D 180 überlebte und wurde in einem anschließenden Strafverfahren zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.


Situation, Fehlerketten und Zufall

Eisenbahn ist, genau betrachtet, ein System regelbasierter Kooperation. Ein gewaltiges Regelwerk kontrolliert im Eisenbahnbetrieb menschliches Verhalten fortlaufend und gewährleistet so im Allgemeinen einen sicheren und pünktlichen Fahrbetrieb. Fehlende Kooperationsbereitschaft wird systemkonform als „Risiko“ interpretiert, das bei Fortdauer in einen betrieblichen „Nullzustand“ überführt wird. Züge werden dann z.B. automatisch zum Halten gebracht oder neue Fahrstraßen im Stellwerk blockiert. Oberstes Ziel ist, Zufälle auszuschließen.


Wieso kam es dann trotzdem zu diesem Unfall?  


Weil das System nicht so geschlossen war, wie die Beteiligten implizit annahmen. Die Eisenbahn war durch den von Deutschland ausgelösten Krieg Teil der Militärlogistik geworden. Militärzüge bekamen Priorität, Loks und Ersatzteile wurden kriegsbedingt knapp, trotzdem sollte der Personenverkehr normal weitergehen. Folge: das System Eisenbahn wird unter Stress gesetzt und eingebaute Sicherheitsredundanzen sinken. Betriebliche Notfallverfahren waren nicht eingeübt, die entsprechende Kommunikation zwischen den Verantwortlichen lief fehlerhaft oder sogar falsch. Ganz am Ende überfuhr der Lokführer des D 180 mindestens ein Signal, das „Halt!“ zeigte. Allein über dieses „menschliche Versagen“ urteilten die Richter des Strafverfahrens, nicht jedoch über den Einfluss der damaligen Situation.


Noch ein Zufall

Am gleichen Tag ereignete sich in Markdorf bei Friedrichshafen ein weiterer schwerer Eisenbahnunfall. Durch die Frontalkollision eines Personenzugs mit einem Güterzug auf einem eingleisigen Streckenabschnitt kamen gegen 22:20 Uhr mehr als 100 Personen ums Leben. Auch hier war ein Mix an Unzulänglichkeiten ausschlaggebend: die kriegsbedingt fehlende Beleuchtung der Züge, der als Sonderverkehr nicht vorschriftsgemäß gemeldete Personenzug, der auf dem Güterzug mitfahrende Bremser, der nicht auf dem ihm zugedachten Platz war. Jedes einzelne Versagen hätte zumindest die Folgen der Kollision deutlich vermindern können.


Halten wir fest: an einem einzigen Dezembertag des Jahres 1939 starben in Deutschland bei zwei fürchterlichen Eisenbahnunglücken mindestens 287 Personen, möglicherweise sogar bis zu 500. Mindestens weitere 153 Reisende wurden verletzt. Dass diese Unfälle nicht ins Konzept der Siegespropaganda der Nazis passten und deshalb damals medial nicht groß thematisiert wurden, ist nachvollziehbar. Dass auch heute darüber fast keine Kenntnis mehr existiert, ist es nicht.

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